Tag 10 – Amanita Online Kongress 2025: Wolfgang Bauer – Der König des Waldes, Märchen, Mythen & die Anderswelt des Fliegenpilzes
Datum: 2. November 2025 | Kategorie: Psychologie & Kulturanthropologie
Einführung – Vom Märchenwald zur Mythologie des Bewusstseins
Wolfgang Bauer ist psychologischer Psychotherapeut, Ethnologe und Autor des Standardwerks „Der Fliegenpilz – geheimnisvoll, giftig und heilsam“ (AT Verlag). Seit Jahrzehnten erforscht er die kulturelle, symbolische und psychologische Bedeutung des Fliegenpilzes – als Mythenstifter, Bewusstseinsveränderer und als „König des Waldes“. Seine Forschung spannt den Bogen von sibirischen Schamanen bis zu europäischen Märchen, von Mythen der Anderswelt bis zur modernen Psychologie. Sein Wissen wurzelt gleichermaßen in gelebter Erfahrung, psychotherapeutischer Arbeit und tiefem Staunen über die Magie der Natur.
Eine Kindheit mit Zwerghäusern und Zauberpilzen
„Da wohnen die Zwerge drin!“ – dieser Satz seiner Mutter während eines Luftangriffs 1944 wurde für den kleinen Wolfgang zum Schlüsselerlebnis. Während sie sich im Wald unter Fichten versteckten, erblickte er erstmals eine Gruppe roter Fliegenpilze – und lernte, dass dort Wesen wohnen, die geschützt werden müssen. Diese frühe Begegnung verband Krieg, Angst, Schutz und Zauber zu einem tiefen archetypischen Bild. Der Fliegenpilz wurde für ihn zum Tor in eine andere Wirklichkeit – ein Symbol für Geborgenheit, Mysterium und das Unfassbare. Später, inspiriert von „Alice im Wunderland“, erkannte er, dass es in vielen Geschichten um genau diesen Moment geht: das Fallen in die Tiefe, den Übergang in eine andere Dimension des Bewusstseins.
Von der Volkskunde zur Pflanzenmystik
Während seines Studiums der Psychologie und Ethnologie wandte sich Wolfgang Bauer den Themen zu, die an den Universitäten kaum Platz fanden: Märchen, Mythen, Schamanismus und Bewusstseinsforschung. Gemeinsam mit Kollegen wie Serus Golowin und Hermann de Vries entdeckte er die „geistbewegenden Pflanzen“ neu. 1991 kuratierte er die erste große Fliegenpilz-Ausstellung im Karl-Ernst-Osthaus-Museum in Hagen – eine Pionierleistung. Es folgten Wanderausstellungen in ganz Europa, unter anderem im Amsterdamer Drogenmuseum, wo die Schau über 150.000 Besucher anzog. Ausstellungen, Bücher, Kooperationen – sie alle machten sichtbar, dass der Fliegenpilz nicht nur Gift, sondern ein Tor in alte Bewusstseinstraditionen ist.
Die erste eigene Erfahrung – Entrückung in kosmische Höhen
Ein Schlüsselerlebnis prägte Wolfgang Bauer nachhaltig: Eine Einladung bei Serus Golowin in Interlaken. Golowins Frau reichte ihm ein Glas Wodka, in dem mehrere Wochen lang Fliegenpilze mazeriert hatten. „Wenn man darüber schreibt, sollte man auch wissen, wie es wirkt“, sagte sie. Nach dem Trinken schloss Wolfgang die Augen – und wurde entrückt. Er wuchs, wuchs, bis er „so groß war wie die Berge, dann wie die Erde“. Schließlich fand er sich im Weltraum, atmete ohne Luft, verstand, dass er „in der Anderswelt“ war. Als er zurückkehrte, begriff er: Der Fliegenpilz schafft Entrückung – den Sprung in Räume, wo physikalische Gesetze keine Bedeutung mehr haben. „Entrückung in die Anderswelt, das suchen die Menschen seit Urzeiten.“
Zaubermärchen, Zwerge und Kappen – Spuren eines alten Wissens
Für Wolfgang Bauer sind Märchen verschlüsselte Erinnerungen an psychoaktive Erfahrungen. „Bei den Zaubermärchen wird immer etwas gegessen, getrunken, geschnupft – und plötzlich gilt die normale Physik nicht mehr.“ Besonders das Märchen „Des Schneiders Zwergenmützchen“ beschreibt in symbolischer Form, was ein Fliegenpilzerlebnis bewirken kann: Entrückung, Macht, Fülle, Reichtum. In den Märchen wohnen Zwerge im Pilz – Hüter unermesslicher Schätze. Der Pilz erscheint darin als beseeltes Wesen, als „Zwergenhaus“, als Tor in eine andere Welt. Und immer wieder kehrt er zurück – als rotes Glückssymbol, als Wohnort der kleinen Helfer, als magische Schwelle.
Von Glückspilzen, Weihnachtsmännern & fliegenden Rentieren
Im Jahreslauf taucht der Fliegenpilz immer wieder an den Schwellenzeiten auf – zur Wintersonnenwende, zu Halloween, zur Walpurgisnacht. Bauer folgt hier auch den Forschungen von Christian Rätsch: Der Weihnachtsmann könnte eine westliche Fortführung des „Väterchen Frost“ sein – eines schamanischen Geistes, der durch den Kamin (das Rauchloch der Jurte) steigt, um Gaben zu bringen. Seine roten und weißen Farben, seine Verbindung zu Rentieren (die Fliegenpilze lieben), seine nächtliche Himmelsreise – all das sind Archetypen eines alten Pilzkultes. Der Schamane, der durch den Rauch aufsteigt, die Seele, die durch das Dach fliegt, der Geschenkbringer aus der Anderswelt – in ihnen lebt dasselbe Prinzip: die Verbindung zwischen den Welten.
Die Anderswelt als psychologischer Raum
In Bauers psychotherapeutischer Arbeit ist die Anderswelt kein Fantasy-Begriff, sondern ein innerer Erfahrungsraum. Entrückung, Trance, Traum und Symbolsprache sind Ausdrucksformen des Unbewussten. Er beschreibt Märchen als kollektive Träume, die das psychische und spirituelle Wissen der Menschheit bewahren. „Frau Holle, Percht, Baba Jaga – das sind keine Erfindungen, sondern archetypische Lehrerinnen.“ Der Fliegenpilz, sagt er, sei eine Pflanze der Übergänge – ein „psychedelischer Schwellenhüter“, der uns die Tür öffnet, wenn wir bereit sind, das Gewohnte hinter uns zu lassen.
Vergessene Wurzeln – Warum wir das alte Wissen verloren haben
„Das Christentum hat uns die Anderswelt ausgetrieben“, sagt Bauer. Mythische Figuren wie Holle, Percht oder die Elfen wurden dämonisiert. Spirituelle Erfahrung wurde rationalisiert, ekstatische Bewusstseinsformen verbannt. „Wir sollten nicht durch Märchen inspiriert werden, sondern durch Statistik.“ Doch die Sehnsucht bleibt – sichtbar in der Rückkehr alter Feste, im Hype um den Fliegenpilz, in der spirituellen Suche vieler Menschen. Der Fliegenpilz ist für ihn ein Symbol dieser Wiederverbindung: „Er steht am Rand der Zivilisation – und lädt uns ein, wieder Waldmenschen zu werden.“
Mithras und die Zwerge – Kultische Parallelen
Ein Kapitel seines Buches widmet Bauer dem Mithraskult. Der Felsgeborene Gott, der aus der Erde hervorbricht, spiegelt für ihn das Wesen des Fliegenpilzes: „Er durchstößt den Boden, bringt Licht, entfaltet Kraft.“ In Mithräen – unterirdischen Kultstätten – fanden Eingeweihte Rituale statt, bei denen Speisen und Getränke offenbar zu Anderswelterfahrungen führten. „Die unteren Grade bekamen Wasser, die oberen wohl einen besonderen Trank.“ Die Parallelen zu schamanischen Pilzritualen sind offensichtlich. „Der Fliegenpilz ist der rote Hut des Mithras – das Symbol der Wiedergeburt aus der Erde.“
Renaissance & Verantwortung – Der Pilz im digitalen Zeitalter
In einer Zeit, in der Fliegenpilzprodukte im Internet massenhaft verkauft werden, warnt Bauer vor Entfremdung: „Wir kaufen Erleuchtung im 50-Gramm-Päckchen – ohne zu wissen, woher sie stammt.“ Der wahre Zugang, sagt er, liegt nicht im Pulver, sondern im Wald: „Geht hinaus. Sucht den König des Waldes. Sprecht mit ihm. Seht ihn an. Es ist ein Erlebnis, das kein Shop der Welt ersetzen kann.“ Für ihn ist dies nicht romantische Nostalgie, sondern psychologische Ökologie – die Rückverbindung von Mensch, Seele und Natur.
Wolfgang Bauers Vermächtnis
Seine Bücher, Ausstellungen und Forschungen haben die moderne Wahrnehmung des Fliegenpilzes nachhaltig geprägt. In ihm sieht Bauer ein Symbol für das Menschliche: schön, gefährlich, faszinierend, widersprüchlich. „Der Fliegenpilz ist kein Gift, kein Glücksbringer, kein Heilmittel – er ist ein Lehrer.“ Und wie alle guten Lehrer fordert er uns auf, selbst hinzuschauen.
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Informationen über den Interviewpartner
Wolfgang Bauer
Psychologischer Psychotherapeut · Kulturanthropologe
Wolfgang Bauer, Jahrgang 1940, ist Diplom-Psychologe, Psychotherapeut und Kulturanthropologe mit jahrzehntelanger Erfahrung in psychologischer Praxis und kulturwissenschaftlicher Forschung. Seine Studienreisen führten ihn unter anderem nach Island, Mexiko, Südasien und Nordafrika, wo er sich intensiv mit Megalithanlagen, Heilquellen und schamanischen Traditionen beschäftigte.
Neben seiner wissenschaftlichen Tätigkeit gründete er mehrere Verlage und veröffentlichte als Herausgeber zahlreiche Werke zu Themen wie psychoaktiven Pflanzen, magischer Kultur und Bewusstseinsforschung. Mit seinem Buch „Der Fliegenpilz: Geheimnisvoll, giftig und heilsam“ (2014) schuf er ein umfassendes Werk, das den Fliegenpilz in seiner mythologischen, religiösen und therapeutischen Bedeutung beleuchtet.
Schwerpunkte:
- 🧠 Psychologischer Psychotherapeut & Kulturanthropologe
- 🌍 Feldforschung zu schamanischen & spirituellen Traditionen
- 📚 Autor & Herausgeber zu Bewusstseinskultur & Ethnobotanik
- 🍄 Erforschung der Mythologie & Heilkraft des Fliegenpilzes
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