Am zweiten Tag des Amanita Online Kongress 2025 sprach die französische Anthropologin und Filmemacherin Amélie Barbier über ihre Feldforschung im Dorf Tumlat auf der Halbinsel Kamtschatka im russischen Fernen Osten. Dort untersuchte sie die traditionelle Nutzung des Amanita muscaria, den die lokale Bevölkerung „Wapak“ nennt. Ihre Forschung verbindet Ethnografie, Traumwissenschaft und Filmkunst und eröffnet faszinierende Einblicke in die lebendige Beziehung der Koryak-Kultur zu diesem besonderen Pilz.
Der Weg nach Kamtschatka
Barbier berichtet, dass sie ursprünglich über das Thema Träume zur Anthropologie kam. Nachdem sie einen Kurzfilm über Traumforschung gedreht hatte, wollte sie tiefer in ethnografische Feldarbeit einsteigen. Ihre Kenntnisse der russischen Sprache und ihr Interesse an Vulkanlandschaften führten sie nach Kamtschatka, wo sie durch ihren Betreuer auf die traditionelle Nutzung des Fliegenpilzes durch die Koryaken aufmerksam wurde. So entstand 2019 ihre erste zehnwöchige Forschungsreise nach Tumlat – kurz vor der Pandemie, die weitere Aufenthalte verhinderte.
Wapak – der „hörende Pilz“
In Tumlat gilt der Fliegenpilz nicht einfach als Pflanze, sondern als lebendiges, empfindsames Wesen. Die Dorfbewohner beschrieben ihn als eine Art „Gehirn“ oder „Schwamm“, der alles hört und sieht, was um ihn herum geschieht. Jeder Pilz besitzt demnach eine eigene Persönlichkeit – positiv oder negativ – je nachdem, welche Eindrücke er aus seiner Umgebung aufgenommen hat. Dieses individuelle Wesen bestimmt auch die Art der Visionen, die ein Mensch erlebt, wenn er den Pilz konsumiert.
Respekt, Emotion und Ernte
Die Begegnung mit dem Fliegenpilz wird von der Gemeinschaft als heiliger Moment erlebt. Während andere Pilze einfach geschnitten werden, wird der Wapak vorsichtig mit bloßen Händen aus der Erde gelöst. Dabei sollen die Menschen Freude zeigen – singen, lachen, tanzen. Der Pilz reagiert, so glauben die Koryaken, auf die Emotionen der Menschen: Positive Gedanken schaffen gute Erfahrungen, negative Gedanken können Angst oder Unruhe hervorrufen. Auch die Zubereitung übernehmen meist ältere Frauen, die dabei bewusst positive Energien in den Prozess einfließen lassen.
Medizinische und alltägliche Nutzung
Neben seiner rituellen Verwendung gilt der Wapak auch als Heilpilz. Er wird getrocknet, in Salben oder Tinkturen verarbeitet und äußerlich bei Hautproblemen, Rheuma oder Muskelbeschwerden eingesetzt. Nomadisch lebende Rentierhirten verwenden kleinste Mengen getrockneter Pilze, um Ausdauer und Kraft bei körperlicher Arbeit zu steigern – ein frühes Beispiel für das, was wir heute als „Microdosing“ bezeichnen würden.
Träume, Lieder und Ahnenverbindung
Ein zentrales Thema in Barbier’s Forschung ist die Verbindung zwischen Amanita, Träumen und Musik. Viele Koryaken glauben, dass der Pilz kreative Inspiration schenkt – insbesondere in Form von Rodovia Pesna, den „Ahnenliedern“, die Menschen im Traum empfangen. Diese wortlosen Melodien werden über Generationen weitergegeben und gelten als Ausdruck der eigenen Seele. Der Fliegenpilz hilft, diese Lieder zu finden oder zu vertiefen – ein spirituelles Erbe, das Heilung, Erinnerung und Gemeinschaft stärkt.
Die Rolle der älteren Frauen
Frühere sowjetische Quellen beschrieben Männer als Hauptträger der Pilzrituale, doch Barbier fand ein anderes Bild: Heute sind es vor allem ältere Frauen, die Wissen, Sprache und Rituale bewahren und an die nächste Generation weitergeben. Sie sind es, die Kinder beim Sammeln begleiten, die Emotionen lehren und die Brücke zu den unsichtbaren Welten offenhalten. Damit verkörpern sie die traditionelle Weitergabe des Wissens in einer modernen, oft entwurzelten Gesellschaft.
Fazit
Amélie Barbier zeigt mit ihrer Arbeit, dass Amanita muscaria in der Koryak-Kultur weit mehr ist als ein psychoaktiver Pilz. Er ist Lehrer, Heiler und Bindeglied zwischen Menschen, Ahnen und Natur. Ihre Forschung öffnet einen respektvollen Blick auf eine Kultur, in der Pilze nicht konsumiert, sondern geehrt werden – als fühlende Wesen in einem Netz aus Achtsamkeit, Musik und Erinnerung.
Hinweis der Amanita Academy: Wir möchten ausdrücklich darauf hinweisen, dass wir uns von jeglichen medizinischen, therapeutischen oder inhaltlichen Aussagen der im Amanita Online Congress 2025 vertretenen Sprecher distanzieren. Wir möchten lediglich die Inhalte der einzelnen Vorträge neutral zusammenzufassen und der Öffentlichkeit zugänglich zu machen – ohne Wertung, Empfehlung oder Einflussnahme. Die in den Interviews und Präsentationen geäußerten Meinungen spiegeln nicht zwangsläufig die Ansichten der Amanita-Academy wider. Wir stellen dieses Wissen zur Verfügung, um den Diskurs zu fördern und interessierten Menschen die Möglichkeit zu geben, sich ein eigenes Bild zu machen. Alle Videos können auf der offiziellen Webseite des Kongresses eingesehen werden: http://amanita-congress.de/
Informationen über die Interviewpartnerin
Amélie Barbier
Ethnografische Feldforschung in Kamchatka
Amélie Barbier ist Doktorandin an der École Pratique des Hautes Études (EPHE) und dem Laboratoire d’anthropologie sociale in Paris. Nach einem Masterstudium in Filmtheorie realisierte sie mehrere Kurzfilme, bevor sie sich der ethnografischen Forschung widmete. In ihren Studien untersucht sie die Beziehung zwischen Träumen, Umweltwahrnehmung und Kultur in indigenen Gemeinschaften.
Ihre Feldarbeit führte sie in ein Koryak-Dorf im russischen Fernen Osten, wo sie die Verbindung von Traumwissen und Lebenspraxis erforschte. In ihrer Doktorarbeit untersucht sie die „Wissenschaft der Träume“ in einem französischen Schlaflabor – ein Projekt, das zugleich als Film umgesetzt wird.
Forschung & Institution:
- 🏛️ EPHE & Laboratoire d’anthropologie sociale, Paris
- 🎥 Schwerpunkte: Anthropologie der Träume, Ethnografie, Film



