Tag 10 – Amanita Online Kongress 2025: Markus Berger – Ethnobotanik, Aufklärung & der nüchterne Blick auf den Fliegenpilz
Datum: 2. November 2025 | Kategorie: Ethnobotanik & Substanzkultur
Zwischen Forschung, Aufklärung & Gegenkultur
Markus Berger ist Ethnobotaniker, Bewusstseinsforscher, Autor und Herausgeber von Lucys Rausch im Nachtschatten Verlag. Seit Jahrzehnten widmet er sich psychoaktiven Pflanzen, Pilzen und Substanzen, und zählt im deutschsprachigen Raum zu den profundesten Stimmen in der Drogenkulturforschung. Sein Blick auf den Fliegenpilz – nüchtern, kritisch, liebevoll und wissenschaftlich zugleich – bringt Bodenhaftung in eine Szene, die zwischen Hype, Halbwissen und echter Wiederentdeckung schwankt.
Ein geborener Psychonaut
Markus beschreibt seine Verbindung zu Bewusstseinszuständen als etwas, das ihn „von Geburt an“ begleitet. Wortwörtlich: Seine Mutter erhielt bei der Geburt Lachgas – sein erstes dissoziatives Erlebnis noch im Mutterleib. „Ich bin schon im Zaubertrank gefallen“, sagt er mit Humor. Schon als Kind suchte er nach Mitteln, die das Bewusstsein verändern. Als Jugendlicher stößt er auf Headshops, Underground-Literatur und die frühen Drogenklassiker. Der Fliegenpilz, damals eines der wenigen legal erhältlichen „Entheogene“, wird zu seinem ersten bewusst erforschten Lehrer aus der Natur. Seine erste Erfahrung mit drei großen, getrockneten Hüten beschreibt er als „spirituell, traumhaft, wie Alice im Wunderland“.
Der aktuelle Fliegenpilz-Hype – Zwischen Faszination und Fahrlässigkeit
Seit etwa drei Jahren erlebt Amanita muscaria eine Renaissance – Social Media, Shops, Influencer und Mythen. Markus bewertet das differenziert: „Wie jeder Hype – laut, unreflektiert und gefährlich für die Sache selbst.“ Seine Kritik richtet sich nicht gegen Interesse oder Neugier, sondern gegen Oberflächlichkeit: „Die lautesten Stimmen wissen meist am wenigsten.“ Der Fliegenpilz werde inflationär behandelt, ohne sein chemisches oder kulturelles Profil zu verstehen. Das größte Risiko: durch uninformierten Gebrauch und Selbstdarstellung eine politische Gegenreaktion zu provozieren – ein Verbot. „Laut ist immer das Unbewusste“, so Berger – und genau dort liege das Problem.
Was wir über Amanita muscaria wirklich wissen
- Er ist nicht tödlich. Trotz Totenkopf-Symbolik in alten Pilzführern gibt es keine dokumentierten Todesfälle durch den Verzehr von Amanita muscaria.
- Die Wirkstoffe: Ibotensäure (toxischer, neuroaktiv) wandelt sich beim Trocknen größtenteils in Muscimol (psychoaktiv, weniger toxisch) um. Beide gehören zur seltenen Stoffgruppe der Isoxazolderivate.
- Die Wirkung: eher dissoziativ als klassisch psychedelisch. Kein Tryptamin wie Psilocybin oder LSD, sondern ein eigenständiges pharmakologisches Feld mit träumerisch-luziden Zuständen, Klarheit, Körperverzerrung und Traumintensivierung.
- Spirituelle Potenz: Als „bewusstseinsveränderndes Organismuswesen“ kann Amanita als Katalysator wirken – er verstärkt, was bereits da ist. „Er fügt nichts hinzu, er spiegelt.“
- Keine Psychose-Induktion: Wie bei anderen Substanzen kann er latente psychische Dispositionen aktivieren, aber keine Psychosen erzeugen.
- Keine einheitliche Erfahrung: Die Phänomenologie ist extrem variabel – von Visionen über tiefe Ruhe bis zu körperlichen Reaktionen.
Zwischen Glückspilz und Giftpilz – kulturelle Ambivalenz
Markus beleuchtet den Spannungsbogen zwischen Volksglauben und Dämonisierung: Der Fliegenpilz ist gleichzeitig Glückssymbol und Warnbild. Diese Ambivalenz spiegele kollektive Erinnerung – vom schamanischen Gebrauch bis zum Weihnachtsmann-Mythos. „Christian Rätsch hat plausibel gemacht, dass der Weihnachtsmann ein anthropomorpher Fliegenpilz sein könnte – rot-weiß, schamanisch, vom Himmel kommend.“ Der Pilz wachse zur Wintersonnenwende, wenn Leben sich zurückzieht – ein Symbol der Hoffnung. Dass er zugleich als Giftpilz stigmatisiert wurde, liegt für Berger auch an christlicher Moralisierung von Rausch und Ekstase: „Bewusstseinserweiterung war hierzulande immer verdächtig.“
Microdosing – Hype, Hoffnung oder Heilung?
Auch beim Thema Microdosing sieht Berger viel Verwirrung: „Das ist der nächste Hype.“ Die wissenschaftliche Definition: Einnahme einer Substanz unterhalb der Wahrnehmungsschwelle. Doch diese Schwelle sei individuell – und bei Amanita noch schwieriger, weil jede Kappe unterschiedlich potent ist. Die „klassische Formel“ (1/10 der Voll-Dosis) funktioniere hier nicht. Dosierung müsse durch vorsichtiges Herantasten erfolgen.
Viele berichtete Effekte – bessere Konzentration, Kreativität, emotionale Stabilität, sportliche Leistungssteigerung – bewertet er kritisch: „Vieles ist Placebo. Aber das ist nichts Schlechtes.“ Wenn jemand durch Microdosing weniger Migräne, Angst oder Schmerzen hat, sei der Mechanismus zweitrangig. Wichtig ist der Nutzen. Studien fehlen: Bisher existieren nur Selbstauskunfts-Fragebögen, keine kontrollierten klinischen Doppelblindtests. Er begrüßt Forschungsinitiativen wie die laufende Amanita-Studie von Nora Fischer ausdrücklich.
Spirituelle und therapeutische Perspektive
Markus sieht Amanita als Traumintensivierer und Spiegel des Unterbewussten – weniger als Heilmittel im pharmakologischen Sinn. Er weist aber auf eine essenzielle Wahrheit hin: Kein psychoaktives Mittel macht „bessere Menschen“. Transformation geschieht nur, wenn Bereitschaft, Haltung und Integration da sind. „Die Substanz ist kein Shortcut zur Erleuchtung. Sie kann Türen öffnen – durchgehen musst du selbst.“
Nachhaltigkeit & Verantwortung – Kritik an Kommerzialisierung
Ein zentrales Anliegen von Berger ist der achtsame Umgang mit Natur und Wissen. Mit Sorge beobachtet er den Raubbau an europäischen Amanita-Vorkommen, etwa in Estland oder den Karpaten, wo tonnenweise Pilze für den Online-Handel geerntet werden: „Während er hier überall wächst, kaufen Menschen getrocknete Kappen aus dem Ausland für 50 Euro pro 50 Gramm – und wissen nicht einmal, dass der Pilz heimisch ist.“ Diese Ignoranz sei für ihn Beweis, dass der Hype nichts mit echter Bewusstseinsarbeit zu tun habe. „Wer Amanita wirklich ehrt, erntet mit Respekt – und liest Bücher statt Likes.“
Literaturempfehlungen von Markus Berger
- Wolfgang Bauer: Der Fliegenpilz (AT Verlag) – Standardwerk über Geschichte, Kultur und Pharmakologie.
- Wolfgang Bauer / Alexandra Rosenboom: Rauschpilze – Anthologie mit Beiträgen über Amanita muscaria.
- Andrija Puharich: Der heilige Pilz – über spirituelle Implikationen der Fliegenpilzerfahrung.
- Christian Rätsch & Claudia Müller-Ebeling: Heidnische Weihnachten – über Mythen, Wintersonnenwende und Fliegenpilzsymbolik.
- Markus Berger: Microdosing (Nachtschatten Verlag, 2019) – Überblick über Geschichte, Praxis und Forschung.
Sein Appell – Wissen schützt
Markus’ Schlusswort ist klar und eindringlich: „Bildet euch – nicht für mich, sondern für euch selbst.“ Das Wissen existiert. Es wurde über Jahrzehnte im Untergrund gepflegt, erforscht, dokumentiert. Jetzt sei es an der Zeit, es zu nutzen – jenseits von Hype, Kommerz und Klicks. „Psychoaktive Substanzen sind nicht gefährlich. Gefährlich ist der falsche Umgang mit ihnen – wie bei Wasser, Zucker oder Salz. Wissen ist der beste Schutz.“
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Hinweis der Amanita Academy: Wir möchten ausdrücklich darauf hinweisen, dass wir uns von jeglichen medizinischen, therapeutischen oder inhaltlichen Aussagen der im Amanita Online Congress 2025 vertretenen Sprecher distanzieren. Wir möchten lediglich die Inhalte der einzelnen Vorträge neutral zusammenzufassen und der Öffentlichkeit zugänglich zu machen – ohne Wertung, Empfehlung oder Einflussnahme. Die in den Interviews und Präsentationen geäußerten Meinungen spiegeln nicht zwangsläufig die Ansichten der Amanita-Academy wider. Wir stellen dieses Wissen zur Verfügung, um den Diskurs zu fördern und interessierten Menschen die Möglichkeit zu geben, sich ein eigenes Bild zu machen. Alle Videos können auf der offiziellen Webseite des Kongresses eingesehen werden: http://amanita-congress.de/
Informationen über den Interviewpartner
Markus Berger
Ethnobotaniker · Bewusstseinsforscher · Lucys Rausch · Nachtschatten Verlag · Psychedelia-Stiftung
Markus Berger ist Ethnobotaniker, Schriftsteller, Referent und eine prägende Persönlichkeit der psychedelischen Bewegung. Als privater Bewusstseins- und Drogenforscher widmet er sich seit Jahrzehnten der Erforschung psychoaktiver Pflanzen und Substanzen und entdeckte u. a. die psychoaktiven Eigenschaften der Orchideengattung Dendrobium.
Er ist Autor von über 40 Fachbüchern zur Ethnobotanik, Drogenkunde und Bewusstseinsforschung, darunter Standardwerke wie „DMT – Forschung, Anwendung, Kulturgeschichte“, „Ketamin“ sowie der zweite Band der „Enzyklopädie der psychoaktiven Pflanzen“ (gemeinsam mit Christian Rätsch). Seine Bücher erscheinen in zahlreichen internationalen Verlagen und gelten als Grundlagenwerke für Fachleute wie Interessierte gleichermaßen.
Markus Berger ist Chefredakteur des Magazins Lucys Rausch und Co-Verleger des Nachtschatten Verlags – des weltweit einzigen Verlags, der sich vollständig der Drogen- und Bewusstseinskunde widmet. Als Dozent der Storl-Akademie sowie als Veranstalter der Kongressreihe Entheovision trägt er maßgeblich zur Bildung und Entstigmatisierung im Bereich der psychedelischen Kultur bei.
Mit Entheogen – Das Magazin gründete Berger 2011 den ersten deutschsprachigen YouTube-Kanal für psychoaktive Bildungsinhalte und wirkte als Produzent und Moderator verschiedener Formate wie Nachtschatten Television und Drug Education Agency (DEA). Er ist außerdem Gründungs- und Vorstandsmitglied der Psychedelia-Stiftung, der ersten europäischen Stiftung für psychedelische Kultur (seit 2024).
Schwerpunkte:
- 📚 Ethnobotanik & Forschung zu psychoaktiven Pflanzen
- 🧠 Bewusstseins- & Drogenkunde
- 📰 Chefredakteur von Lucys Rausch
- 🏛️ Co-Verleger des Nachtschatten Verlags
- 🎓 Dozent & Veranstalter der Kongressreihe Entheovision
- 🌈 Gründungsmitglied der Psychedelia-Stiftung
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